Will Volksentscheid-retten eine „Tyrannei der Minderheit“?

Oliver Wiedmann nimmt Stellung zum rbb24-Artikel.

„Es entscheiden am Ende eben nicht die Initiatoren eines Bürger- oder Volkbegehrens, sondern die Bürgerinnen und Bürger“

Die von der Initiative beabsichtigte Senkung der Quoren führe zur „Tyrannei der Minderheit“, befürchtet Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin. Er meint: Volksentscheide nützten in erster Linie mächtigen und gut organisierten Interessenverbänden und auch einer Partei wie der AfD. (hier rbb 24 Artikel lesen)

Dies sind typische Thesen, die gegen die direkte Demokratie aufgeführt werden.

Es überraschte uns allerdings, sie aus der Feder eines Wissenschaftlers erneut zu lesen.

Dennoch freuen wir uns über die Debatte und über die Möglichkeit Informationen und Argumente zu diskutieren.

Im folgenden eine Stellungnahme in Bezug auf o.g. Artikel:

1. Minderheitenrechte sind und bleiben geschützt.

Kampfbegriffe wie die „Tyrannei der Minderheit“ suggerieren, dass mit Volksentscheiden in den Bundesländern grundlegende Minderheitenrechte außer Kraft gesetzt werden könnten. Das ist falsch. Das angeführte Beispiel der Abstimmung über ein Minarettverbot in der Schweiz ist fehl am Platze, denn Volksbegehren werden in den deutschen Bundesländern im Unterschied zur Schweiz auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht überprüft. Verstoßen sie gegen Grundrechte, so werden sie für unzulässig erklärt. Das Grundgesetz steht dabei über allem. Ein Volksbegehren gegen Moscheen würde in Berlin wie auch bundesweit gegen die freie Religionsausübung verstoßen. Es wäre gar nicht zulässig.

2. Es ist umgekehrt. Minderheiten können sich durchsetzen, wenn hohe Zustimmungsquoren gelten.

Was bei der Quorumsdebatte oftmals unterschlagen wird, dass ja neben der Mindestzustimmung, die 25% der Abstimmungsberechtigten ausmachen muss, natürlich auch die Mehrheit der am Volksentscheid Teilnehmenden mit Ja stimmen muss. Ist die Mindestzustimmung aber nicht erreicht, wird, dann wird die Mehrheitsregel komplett ausgehebelt. Beispiel: 2013 beim Berliner Energie-Volksentscheid stimmten 83% der Abstimmenden zu, aber der Volksentscheid verfehlte um 0,9% knapp das Zustimmungsquorum. Es stellt sich offensichtlich die Frage, ob sich hier nicht die Minderheit durchsetzte. Schließlich hatten nur 17% gegen den Vorschlag der Initiative gestimmt.

3. Parlamente und Kommunalvertretungen erfüllen  Quoren nicht immer – aber keiner zweifelt an ihrer Legitimation.

Auch Parlamente und Kommunalvertretungen erfüllen selbst mitunter die für Volksentscheide erforderlichen Quoren nicht, dennoch bleibt ihre Legitimation. Die rot-rote Koalition im Brandenburger Landtag versammelt nur 23,8% der Wahlberechtigten hinter sich, kann jedoch weitreichende Änderungen in diversen Themenfeldern für einen Zeitraum von fünf Jahren durchsetzen. Wolfgang Merkel würde vermutlich nicht auf die Idee kommen, dem Landtag die Legitimation abzusprechen.

4. Berliner haben in 10 Jahren Praxis alle Volksentscheide von mächtigen Interessensgruppen mehrheitlich abgelehnt.

Weiter unterstellt Herr Merkel Volksentscheiden einen grundsätzlich konservativen, und mit Verweis auf die AfD sogar rechtspopulistischen Charakter. Mit dem Schweizer Beispiel vergleicht er jedoch Äpfel mit Birnen. Da die Berliner Regelungen für die direkte Demokratie auf dem Prüfstand stehen, sollten dafür auch Berliner Beispiele herangezogen werden, die nach 10 Jahren Praxis zahlreich vorhanden sind. Im Volksentscheid durchsetzen konnten sich die Kampagnen mit den kleinsten Budgets, nämlich die des Wassertisches und der Initiative Tempelhofer Feld. Mächtige Interessengruppen sehen anders aus, z.B. die von konservativen Parteien und den Kirchen unterstützte Kampagne „Pro Reli“, die jedoch von den Berlinerinnen und Berlinern mehrheitlich abgelehnt wurde.

5. Der viel behaupteten Stärkung rechtspopulistischer Kräfte durch die direkte Demokratie fehlt bisher jeder Beleg.

Trotzdem machen selbst Wissenschaftler keinen Halt vor solchen Thesen. Nur weil die AfD Volksentscheide befürwortet, heißt es nicht, dass direkte Demokratie plötzlich schlecht ist.

Vor allem vor dem Hintergrund der seit zwei Jahren dominierenden Flüchtlingsdebatte besteht die Angst, die rechten Kräfte könnte nun mittels Volksabstimmungen ihre Interessen durchsetzen. Ein Blick in die Empirie offenbart das Gegenteil: Von insgesamt 600 Bürgerbegehren bundesweit in den letzten zwei Jahren wurden 25 Bürgerbegehren zum Thema Flüchtlingsunterbringung gestartet. Kein einziges konnte sich gegen den Bau einer Unterkunft durchsetzen. Dort wo Bürgerentscheide stattfanden, entschieden sich die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich für die Unterbringung. Es entscheiden am Ende eben nicht die Initiatoren eines Bürger- oder Volkbegehrens, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Ein wenig mehr Vertrauen in die eigene Bevölkerung kann hier nicht schaden.

31.5.16, von Oliver Wiedmann, Mehr Demokratie e.V.